Görlitz, von den Stadtmarketingleuten auch Görliwood genannt, ist eine Filmstadt am äußersten rechten Rand von Deutschland, eine Stadt, die von den Bombern des 2. Weltkriegs verschont blieb, obwohl sie als Ziel vorgesehen war, eine Stadt auch deshalb voll historischer Bausubstanz, die als Kulisse für ebensolche Filmprojekte dient.


„Syrena“ in Deutsch Ossig: eine Sirene in einem Ort ohne Menschen? Das passt!

Daniel Tobias aus Könighain hat „Syrena“ aus einem Eichenstamm gesägt. Sirenen sind in der griechischen Mythologie meist weibliche Wesen, die durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer anlocken, um sie zu töten. Okay, das könnte zu einem fast menschenleeren Ort passen, aber die wahre Ursache für diese Wüstung ist kein Fabelwesen, sondern der Tagebau. Außerdem steht das polnische Wort „Syrena“ für Meerjungfrau. Und die sind ja gut … oder zumindest nicht schlecht … obwohl … Moment, da war doch was bei den Piraten in der Karibik .


Strandbar und Spielplatz am Berzdorfer See

Wir lagern auf Mario Hokes Stellplatz  in Görlitz (kostet inzwischen 10€) und sind gerade zum Berzdorfer See  drei Kilometer vom Stellplatz entfernt geradelt. Heute Nacht war es frostig kalt und jetzt genießen wir in leichter Bekleidung in den Liegestühlen vor der Strandbar den Blick auf See und Sonne. Verrückt ...

Ein kleines Stück weiter den See entlang liegt Deutsch Ossig , ein Ort der dem Tagebau zum Opfer fallen sollte, sich im letzten Moment aber schwerverletzt retten konnte, weil der Angreifer verschwand. Die Bewohner waren aber schon fort, der Friedhof entweiht und die Kirche hat man kurzerhand abgebaut und woanders wieder aufgestellt. Das riesige Loch dort wo einmal Braunkohle lag füllte sich langsam mit Wasser und so entstand der See, an dessen Ufer wir gerade leckere Pommes essen. Aus Wikipedia:

Mit dem Ende des Tagebaus und der Revitalisierung der Landschaft ist es geplant, die alte Ortslage Deutsch Ossig wieder entstehen zu lassen und die noch vorhandenen Gebäude teilweise in die neue Nutzung einfließen zu lassen.



Deutsch Ossig: Verfall und neues Leben – wie eine Blume, die sich durch eine Mauer zwängt

Was immer das heißen mag – wir sehen jedenfalls neue Briefkästen und unvertrocknete Pflanzen hinter ein paar Fenstern. Es scheint also noch/wieder Bewohner zu geben und deren Versuche, zwischen halb verfallenen Gebäuden eine Gastronomie für Besucher des Sees oder Radwanderer zu etablieren, geben dem Gelände schon eine recht eigentümliche Atmosphäre.

Zurück zu Görliwood: Ausgedehnte Gründerzeitviertel umgeben eine Altstadt, an deren Häusern man alle wesentlichen Phasen mitteleuropäischer Baustile (Spätgotik-, Renaissance- und Barockbürgerhäuser) erkennen soll. Mit über 4000 großteils restaurierten Kultur- und Baudenkmalen wird Görlitz oft als das flächengrößte zusammenhängende Denkmalgebiet Deutschlands bezeichnet. Diesem besonderen Stadtbild verdankt Görlitz seinen Status als beliebte und häufig genutzte Filmkulisse. Einen Blick über die erstaunliche Bandbreite der (zumindest teilweise) hier abgedrehten Filme findest du in der Görliwood Filmografie .


Der Food-Park: Nicht zu übersehen, aber leider kein Kaffee

Unser erster Spaziergang in der Stadt führt uns über die Altstadtbrücke nach Polen. Marianne und ich sind beide mitten in Deutschland aufgewachsen und haben natürlich schon einige Staatsgrenzen passiert, aber das Gefühl mitten in einer Stadt über eine Brücke zu gehen und dann in einem anderen Land zu sein, das ist für uns schon noch ein Erlebnis. Wir steuern den Food Park an, der Imbiss am Ufer der Neiße mit der cleveren Werbung. Dort gibt es zwar verschiedene Varianten des polnischen Kultsnacks Zapiekanka , den auf der Speisetafel angekündigten Kaffee aber leider nicht. Schade, wir hätten uns gerne mit einem Heißgetränk ein wenig am sonnigen Flussufer ausgeruht.


Peterskirche und davor die Vierradenmühle mit null Raden

Unser Rückweg führt über die Brücke an der ehemaligen Vierradenmühle  vorbei zur Peterskirche . Egal ob Wind oder Wasser – ich bin ja ein absoluter Mühlenfanm aber eine Mühle mit mehreren Rädern habe ich noch nie gesehen. Dafür komme ich hier allerdings 100 Jahre zu spät. Nun erzeugt anstelle der Wasserräder so was wie eine senkrecht angeordnete Schiffsschraube (Kaplanturbine) Strom. Die könnte ich mir allerdings anschauen, wenn ich an der Theke des darüber befindlichen Restaurants durch die Glasplatte  in den Keller schauen würde.

Hier wurde früher übrigens nicht nur Mehl gemahlen, sondern auch Stoff gewalkt. Walken? Was ist das denn? Das werde ich später lernen und nebenbei noch, was ein Lodenmantel  damit zu tun hat. Die Leute von Urchigs Terbil haben auf ihrer Webseite  einen wunderbar entschleunigten (also langatmigen) Film darüber, wie so eine kleine Walkmühle funktioniert.

Und dann die Peterskirche  (eigentlich St. Peter und Paul), mit 72x39x24 Metern eine der größten Hallenkirchen im Osten Deutschlands und für mich Sinnbild der Bausubstanz in der Görlitzer Altstadt: das dunkle, jahrhundertealte Mauerwerk im Osten und die wie neu anmutenden Türme am Westwerk, bei deren Restaurierung 2002 bis 2004 – wie auf der Webseite Ostsachen.de  zu lesen – „die Handwerker sie hell verputzten“, so als hätten die sich das mal eben überlegt.



Der Untermarkt mit seinen schmuckvollen Bauten

Okay, auf dem Hauptwanderweg durch die Altstadt ist kaum eine Spur von erodiertem Mauerwerk zu sehen und genau diese Trasse gehen wir jetzt über die Neißestraße zum Untermarkt, von dort zum Obermarkt und über den Postplatz mit der Muschelminna  zum Bahnhof. Bevor wir losgehen noch ein kleiner Hinweis zur Kirche: Die barocke Innenausstattung kannst du dir über die beiden Kugelpanoramen der Wikipedia anschauen (jeweils vom Mittelpunkt der Halle nach Osten  und Westen ).


Das Bibelhaus dekoriert mit Szenen aus der Bibel

Die Neißestraße endet am Untermarkt und dort befinden sich Bibel - und Barockhaus. Beide sind Kaufmannshäuser – das eine geschmückt mit Szenen aus dem alten und neuen Testament und das andere dekoriert mit einem üppig geschmückten Eingangsportal.

Wir gehen daran vorbei und betreten unvermittelt den Untermarkt. Sofort fällt uns das Gebäude mit den beiden Sonnenuhren auf: die ehemalige Ratsapotheke . Die Linien der linken Sonnenuhr zeigen – für mich etwas verwirrend – verschiedene Arten von Stunden. Die zum Schattenzeiger weisenden, grauen Linien geben wie bei den meisten Uhren dieser Art die bürgerlichen  Stunden an. Dabei beginnt die ablesbare Zeit links mit sieben Uhr vormittags und endet rechts um vier Uhr nachmittags. Die arabischen sowie römischen Ziffern und die dazugehörigen von links oben nach rechts unten verlaufenden Linien zeigen die italienischen  und die roten Linien die babylonischen  Stunden.

Hinter uns am Marktplatz steht “Der braune Hirsch“ , eines der weitläufigsten Häuser in der Görlitzer Altstadt und lange Zeit mit der vornehmste Gasthof hier. In seinem Kellergewölbe wurden Szenen aus dem Film  „Der junge Karl Marx“ gedreht. Und mitten auf dem Platz fand die Bücherverbrennung  aus „Die Bücherdiebin“ statt.


Der 1525 als Hallenhaus erbaute Schönhof

Am Ausgang des Untermarktes in Richtung Obermarkt steht der Schönhof , das älteste Renaissance-Bauwerk der Stadt. Das komfortabel ausgestattete Repräsentationsgebäude mit dem prächtige Erker wurde seit dem 14. Jahrhundert als fürstliches Gästehaus genutzt. Im Inneren reichte eine zentrale Halle über alle Stockwerke – damit entspricht das Haus dem Typus eines Görlitzer Hallenhauses (Flyer zur Ausstellung „Kaufmannspaläste an der Via Regia“ ). Von denen hat die Stadt noch einige, aber die sind von außen nicht leicht zu identifizieren und außerdem nur im Rahmen einer Führung zu begehen.

Fortsetzung folgt