Paderborn ist bei uns zuhause um die Ecke. Beim Spaziergang durch die Innenstadt ist förmlich zu spüren, dass in dieser Stadt der Glaube und die Kirche eine große Rolle spielen. Das ist aber noch gar nichts im Vergleich zu Altötting. Wer hier den Kapellplatz betritt, taucht in eine andere Welt ein – ein Erlebnis, das sich aber auch lohnt für nicht so bibelfeste Reisende wie wir. Und dann gibt es da noch zwei der üblichen, profanen Bauwerke, die wir so aber noch nirgendwo gesehen haben.
Als wir die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland überquert und uns mit dem Preisgefüge der Stellplätze im Süden unseres Heimatlandes beschäftigt haben, da kam kurz der Gedanke auf, wieder zurück zu unseren Nachbarn mit dem Überangebot an Käse und Stangenbroten zu fahren. Aber wir haben ja eine Verabredung in Wien und deshalb müssen wir jetzt da durch.
Auf der Suche nach günstigen Stellplätzen auf dem Weg dorthin sind wir auf Altötting gestossen, und nun stehen wir hier, 500 Meter von der Altstadt entfernt auf einem schattigen Platz mit Ent- und Versorgung sowie Toilette für null Euro. Perfekt.
Auf dem Kapellplatz
Altötting? Was ist das nochmal? Ach ja, Wallfahrtsort. Und was für einer. Die Gnadenkapelle mit der schwarzen Madonna hat sicher zur überregionalen Bedeutung des Ortes beigetragen. Viele Wallfahrtstraditionen reichen zurück ins 15. Jahrhundert, eine Zeit der Kirchen- und Glaubenskrise unmittelbar vor der Reformation, in der Frömmigkeit häufig im Sammeln von Reliquien, im Wunderglauben und in Pilgerfahrten ihren Ausdruck fand. In diesem religiösen und sozialen Umfeld wurde die „Gnadenkapelle“ zum Zentrum der Volksfrömmigkeit und die „schwarze Madonna“ Ziel von Fürbitten, sehr gefördert von Wittelsbacher-Fürsten wie Maximilian I. (1450-1519), der im Zuge der Gegenreformation ein politisches Interesse am Aufschwung der Wallfahrt hatte und mit den Jesuiten erbitterte Gegner der Reformation in Altötting ansiedelte.
Mehr als 2000 Votivtafeln an den Außenwänden und im Inneren der Kapelle zeugen von der Dankbarkeit für die angeblich von Maria gewährten Wunder. Viele davon sind aufwendig illustrierte kleine Kunstwerke. Neben uralten Zeugnissen sehen wir auch aktuelle für bestandene Prüfungen, überstandene Autounfälle oder Erkrankungen wie etwa Corona. Manche Pilger umrunden die Kapelle mit den eigens dafür bereitliegenden Holzkreuzen, um dabei die Madonna um Hilfe bei ihren Sorgen und Nöten zu bitten. Reicht der beschränkte Platz während eines Gottesdienstes nicht aus, stehen die Leute teilweise singend vor den beiden Eingängen.
Ich habe in einem anderen Blog-Artikel mal etwas geschrieben über die Ausstrahlung kirchlicher Innenräume, die die große Ehrfurcht und Ergriffenheit mittelalterlicher Besucher spürbar macht. Hier in Altötting kann man das sehen. Morgens um sechs beginnt der erste Gottesdienst in der Gnadenkapelle und tagsüber werden die Ansprachen der Priester per Lautsprecher gut hörbar auf den Kapellplatz übertragen. Selbst wenn gerade kein Gottesdienst stattfindet, besetzen betende, überwiegend ältere Menschen mit bewegtem Gesichtsausdruck fast alle der wenigen Plätze auf der Kniebank vor der Madonna und den im Halbdunkel fast wie Separees anmutenden Zweierbänken. Als nicht so bibelfeste Zeitgenossen fühlen wir uns wie um Unauffälligkeit bemühte Einbrecher.
Und dann ist da noch in unmittelbarer Nähe die Stiftspfarrkirche (mit dem Tod von Altötting ), die Basilika St. Anna , die Kapuzinerkirche St. Magdalena und gefühlt ist immer irgendwo Gottesdienst, hören wir irgendwo Kirchenmusik oder -gesang, sehen wir Skulpturen kirchlicher Würdenträger oder religiöser Motive. Dann die vielen Läden mit den Devotionalien im Schaufenster, den Kreuzen, Kruzifixen, Rosenkränzen, Heiligenfiguren und -bildnissen oder Ikonen, die der Andacht und der Förderung der Frömmigkeit dienen. Am Bruder-Konrad-Brunnen neben der Basilika, dessen Wasser über eine Reliquie des Heiligen fließt, benetzen sich viele Wallfahrer Gesicht und Augen. Auch die barocke Architektur der profanen Gebäude wie etwa dem Rathaus trägt dazu bei, dass man sich von sakralen Bauwerken umringt fühlt.
Marianne bekommt ein Gespräch zwischen zwei ortsansässigen Damen mit, währenddessen die eine sagt, dass sie nicht oft in die Gnadenkapelle ginge, sondern nur dann, wenn sie den Wunsch dazu verspüre, und dann würde es sie beruhigen. Und irgendwie bemerke ich auch in mir eine unerwartete Ruhe beim Verlassen der menschenleeren Basilika nach meiner frühmorgendlichen Fotosession in diesem eindrucksvollen Gebäude.
Die Stiftspfarrkirche – auch das Epizentrum des Devotionalienhandels (mit Tod, Tilly-Kapelle und Kreuzgang)
Der Kapellplatz in Altötting – das ist eine andere Welt. Aus unserer Komfortzone heraus, der (für einen touristischen Hotspot) ungewöhnlich guten Eisdiele (in der es auch Pizza gibt), beobachten wir ein paar Mal während unseres Besuchs das Treiben auf dem Platz. Dabei bekommen wir auch den Abschluss der Fahrradwallfahrt mit, an deren Ende die Fahrräder gesegnet werden.
Kriegsverbrecher oder Heiliger? Bei Johann Graf von Tilly sind sich die Historiker nicht ganz einig.
Fast zwangsläufig fällt unser Blick außerdem auf die Skulptur vor der Stiftspfarrkirche. Der sympathisch wirkende, edel gekleidete Reiter mit dem zum Gruße gezogenen Hut ist Johann Graf von Tilly , der in der blutigen Geschichte des dreißigjährigen Kriegs als Heerführer der katholischen Liga eine wichtige Rolle gespielt hat. Angeworben von Kaiser Maximilian (beide Männer verband eine tiefe Marienfrömmigkeit) belagerten und verwüsteten die Grafen Tilly und Pappenheim 1631 die Stadt Magdeburg. Schon kurz danach prägten Zeitgenossen die sarkastische Bezeichnung Magdeburger Hochzeit für dieses Massaker.
Die sterblichen Überreste des Feldherrn liegen heute in der Tilly-Gruft der Stiftskirche , sein Herz befindet sich in der Gnadenkapelle. Die besondere Verbindung Tillys zu Altötting beruhte auf seiner ersten Begegnung mit dem Gnadenbild Marias, das ihm Kraft und Rückhalt gab und Altötting fortan zu seiner spirituellen Heimat machte. Wie fast immer kommt es bei der Bewertung von Geschichte auf den Standpunkt an: Der katholischen Seite galt er als »Heiliger im Harnisch« während die antikatholische und antikaiserliche Publizistik ihn als Werkzeug der Gegenreformation und Mordbrenner von Magdeburg betrachtete.
Ansonsten ist die Stiftskirche ein sehenswertes Bauwerk. Neben der prunkvollen Ausstattung ist dort auf einer etwa sieben Meter hohen Schrankuhr eine 50 cm hohe Skelettfigur aus versilbertem Holz zu sehen, die als Sensenmann im Takt der Uhr mäht (Tod von Altötting ) – sowas sieht man ja nicht alle Tage. Auch die vollplastischen Kreuzwegbilder in den Nischen des Kreuzgangs vom Kollegiatsstift finde ich sehr beeindruckend. Es ist immer wieder interessant zu sehen, dass böse Menschen (hier die Peiniger Jesu) auch finster, gemein und häßlich aussehen.
Mit 1051 Metern eine der längsten Burgen der Welt (Bildquelle: BSV)
380 Jahre lang bis zum Januar 2009 wurde in der Stiftskirche von Altötting täglich um sieben Uhr eine Messe für Tilly gelesen. Ein jeweils eigens dafür eingesetzter Geistlicher tat dies auf Bitten Tillys, der 1632 einen Betrag von 6.300 Gulden gespendet hatte, damit die Messe „bis in alle Ewigkeit“ für sein Seelenheil gelesen werden sollte.
Burghausen
Ganz anders wie üblich ist das 15 Kilometer entfernte Bauwerk, zu dem wir mit unseren ungeschützten Drahteseln fahren. Wir haben unser Badezeug mitgenommen, weil wir auf dem Rückweg noch ins Altöttinger Freibad wollen – glücklicherweise kommt es aber anders.
Die Burg zu Burghausen ist mit einer Länge von 1054 Metern eine der längsten Burgen der Welt. Sie erstreckt sich auf einem schmalen Bergrücken zwischen Salzach und Wöhrsee malerisch über der Stadt Burghausen. Mit ihren turmbewehrten Mauern, ihren Gräben, Brücken und Toren, den vielen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden ist sie noch heute ein stattliches Denkmal mittelalterlicher Bau- und Befestigungskunst und zeugt vom Macht- und Repräsentationswillen bayerischer Herzöge (Panoramabild bei Wikipedia ).
Von der Altstadt aus führen Stiegen und Treppen hinauf, doch am besten erobert man die 1205 erstmals erwähnte Burg von der Nordseite aus. Das war auch schon im Mittelalter so und um Feinden den Angriff zu erschweren befinden sich vor der bewohnten Hauptburg fünf "Vorburgen", durch die sich die Invasoren erst hätten hindurch kämpfen müssen. Damit galt die Burg als uneinnehmbar – beweisen musste sie dies aber mangels ernsthafter Belagerungen nie.
Beeindruckend sind die verschiedenartigen Türme: Im Prechtlturm wohnte Rainer Maria Rilke ein Jahr, der Folterturm ist heute Museum und das Aventinhaus (ein vergrößerter Wehrturm) ist dem bayerische Geschichtsschreiber Johannes Turmair gewidmet. Die Burg war eine kleine Stadt für sich. Hier lebte auch das Personal, das in den Werkstätten, Getreidekammern und Ställen arbeitete. Der innerste Burghof war für die fürstlichen Hausherren reserviert. Hier befinden sich Kemenate und Fürstenbau, der heizbare Dürnitz (heute historisches Stadtmuseum) und die frühgotische Elisabethkapelle, die Schatzkammer und der Kerker für die besseren Gefangenen (wie etwa Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg ).
Ein mehrere hundert Meter langer Wehrgang verbindet die Hauptburg mit dem auf der anderen Seite des Wöhrsees gelegenen Geschütz- und Batterieturm, dem sogenannten Pulverturm. Er besitzt bis zu fünf Meter dicke Mauern, vier Etagen und einen tiefen Brunnen im Erdgeschoss, über den sich die Turmbesatzung im Belagerungsfall mit Wasser versorgen konnte. Auf den Seiten der bayrischen Schlösserverwaltung findest du ausführliche Infos zur Burg und eine paar schöne Bilder dazu. Der virtuelle Rundgang dort ist auch ganz nett.
Freibad
Unmittelbar neben dem Wehrgang zum Pulverturm liegt der Wöhrsee. 1934 wurde dort nach den zuvor getrennten Badeanstalten für Frauen und Männer das Wöhrsee-Familienbad eröffnet. Besonderheit: Eisbaden im Wöhrsee. Neben deutschen Meisterschaften gab es hier 2017 schon mal eine Weltmeisterschaft im Eisschwimmen. Martina Göken hat einen schönen Text zum Bad geschrieben.
Es ist warm bis heiß, ich bin von der Radtour noch verschwitzt und schaue von der Burgmauer hinunter auf das Freibad. Wir haben Schwimmzeug dabei. Warum nicht hier ein erfrischendes Bad nehmen? Wenn da nicht dieses grüne Wasser wäre, das uns an den Blaualgenbefall erinnert, der uns schon am ebenso reizvollen Schluchsee das Vergnügen verdorben hat. Na mal sehen …
Wir fahren mit den Rädern von der Burg hinunter zum See. Fahren ist gut – der Weg ist steil, schmal und anscheinend frisch geschottert. Habe ich das Schild „Nur für Fußgänger“ übersehen? Wir schieben die Räder die Strecke hinab. Bei solchen Aktionen macht sich Mariannes Rücken meist schmerzhaft bemerkbar und sie flucht mehr oder weniger leise vor sich hin. Wer wollte unbedingt zum See? Wer hat diesen Weg ausgesucht?
An der Kasse stelle ich diplomatisch die Frage, ob sie hier ein Blaualgenproblem hätten. Schnell kommt die weniger liebenswürdige Antwort: „Wir haben hier keine Blaualgen. Die grüne Farbe kommt von den Mineralien im Wasser.“ Erleichtert zahlen wir die sechs Euro für uns beide, gehen an den zwei superdicken Karpfen vorbei, die sich im flachen Wasser sonnen, und suchen uns eine Platz auf der Wiese.
Marianne und ich haben uns schon oft geärgert, wenn wir bei unseren Unternehmungen ohne Badezeug einen See entdeckt haben (oder umgekehrt). Heute hat es mal gepaßt. Dieses eigentümlich altmodische Naturfreibad (ohne warme Duschen) mit dem klaren, smaragdgrünen Wasser vor dem pittoresken Panorama – das ist einfach großartig.
Die Kombipaket „Altötting – Burghausen – Wöhrsee“ hat uns sehr gut gefallen. Wir fahren weiter zu unserer Verabredung in Wien – nicht ahnend, dass uns dort die Regenflut des Jahrhunderts erwartet.