Wir sind auf dem Weg nach Klein-Amerika. So heißt einer der zentralen Parkplätze in Gouda, der holländischen Stadt des gleichnamigen Käses. Der Ort soll einer der schönsten in den Niederlanden sein, heißt es im Internet. Das wir aber hier so eine eindrucksvolle Kirche finden würden, für deren Besichtigung mal eben 11 Euro fällig werden, das haben wir nicht erwartet.
Wir sind vorgewarnt. Auf der Webseite von Gouda steht über Klein-Amerika geschrieben: „Dieser Parkplatz hat eine extrabreite Einfahrt und es gibt einen speziellen Bereich für 29 Camper, auf dem das Übernachten erlaubt ist (maximal 72 Stunden).“ Ehemalige Nutzer des Platzes schreiben aber im Netz, dass man um die Plätze kämpfen müsse, weil die auch von „normalen“ Kraftfahrzeugen genutzt würden.
Klein-Amerika
Außerdem solle man ja darauf achten, dass das Wohnmobil nicht über die rote Linien hinausragt. Und heute ist auch noch Donnerstag, der Wochentag des überregional berühmten Käsemarktes. Haben wir da überhaupt eine Chance auf einen Platz?
Wir biegen in die extrabreite Einfahrt ein und tatsächlich sieht der linke Bereich mit den Wohnmobilen ziemlich voll aus. Wir ergattern aber den vorletzten der nutzbaren Areale. Die Stadtplaner haben zwei Reihen des ursprünglich wohl nur für PKW gedachten Platz einfach mit roten Grenzlinien versehen, so dass jedes Wohnmobil so viel Platz bekommt wie zwei ganze und zwei halbe KFZ, den größere Mobile sicher auch brauchen. Wie üblich stellen wir uns an eine Seite „unseres“ Stellplatzes, dann aber in die Mitte, weil die Plätze zur Ausfahrt hin abfallen und wir damit gerade auf einem „flachen Hügel“ zu stehen kommen. Damit schaffen wir uns zwei Probleme:
Erstens passen auf die Fläche rechts neben uns zwei PKW, die deswegen auch nicht lange leer bleibt. Wir werden später mit unseren Einkaufstaschen nur mühevoll durch die Schiebetür einsteigen können. Und zweitens ist vor und hinter uns noch Raum, der für einen Kleinwagen fast ausreichen würde. Uns so werden wir einmal durch Zeichensprache und ein weiteres Mal nach Klopfen an die Scheibe gefragt, ob wir nicht zurückfahren könnten – ganz zu schweigen von denen, die sich nicht trauen und nur den Kopf schütteln.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, nein eigentlich drei: Zurückweichen oder auf die Alleinherrschaft innerhalb des einen von 29 rot begrenzten Stellplätzen bestehen und – wenn schon nicht handgreiflich verteidigen – so doch zumindest durch Ignoranz alle weiteren Ansprüche abwehren. Oder, klar, abhauen. Wir entscheiden uns für Kooperation. Klein-Amerika ist, was den linken (für Wohnmobile reservierten) Bereich betrifft, faktisch ein Platz, den sich PKWs und Womos teilen. Wir werden unseren Kleinwagen später also ein Stück zurückfahren und beschließen, den Aufenthalt zu verkürzen, weil …
Der Käsemarkt
… wirklich schön ist der Platz ja nicht. Aber praktisch. Ich brauche keine 5 Minuten bis zum Marktplatz, und da wir nach unserer Ankunft im Netz gelesen haben, dass der berühmte Käsemarkt erst um halb zwei beginnt, essen wir noch in aller Ruhe zu Mittag. Das war allerdings eine Fehlinformation (oder -interpretation), denn als wir am Marktplatz ankommen, sind die Käsebauern schon beim Abbauen. Die Show ist zu Ende. Schade. Ich kann gerade noch die Laiballee vor dem Rathaus ablichten.
Dafür sehen wir noch de Pansfluiter , den städtischen Drehorgelmann. Fasziniert mich immer wieder. Ich könnte schon eine Weile so einem fahrenden Orchester hinterher laufen. Und dann spielt der Pansluiter auch noch Neil Diamonds „I am, I said“, ein Lied, mit dem mir vor nicht allzu langer Zeit das Jugendblasorchesters Scholz aus Geroda im Hamburger Hafen die Augen angefeuchtet hat. Wer das nachvollziehen möchte, kann sich ja mal die Version des London Philharmonic Orchestra bei Youtube anhören, die das fast genauso gut hinkriegen.
Aber jetzt gibt es erst mal Abendessen. Danach werden wir noch einen schönen Spaziergang die westliche Seite der Fluwelensingelgracht entlang zur Mühle machen. Dabei entdeckte ich an einem Picknickplatz einen interessanten Tipp für die … ähem … jüngeren Generationen.
Sint Janskerk
Marianne hat für heute die Sankt-Johannes-Kirche als Hauptattraktion auserkoren und ich weiß noch nicht, was mich erwartet. Das Gotteshaus – obwohl groß und mit 123 Metern das längste der Niederlande – versteckt sich fast in der eng anliegenden Bebauung drumherum. Das wiederum macht aber einen Rundgang um das Gebäude reizvoll, bei dem es auch ein wenig zu entdecken gibt.
Dazu später mehr, denn wir gehen erst einmal hinein, wobei ich beim Anblick der Eintrittspreise erschrocken zurückweiche. „Wollen wir uns das wirklich antun?“ fragt ich halblaut, aber Marianne, sonst eher zurückhaltend was Kirchenbesichtigungen betrifft, beharrt ungewöhnlich deutlich auf ihren Wunsch. Nun gut. Ich bezahle den Eintritt und die freundliche Dame an der Kasse fragt: „Do you wish an audioguide?“. Ich verneine. Sie erwidert: „It‘s free.“ und in ihrem Gesichtsausdruck lese ich: „Wie kann man nur diese Kirche nur besichtigen, ohne sich die Fensterbilder erklären zu lassen.“ Ich staune mal wieder darüber, wie Kommunikation funktioniert, während mir das handygroße Gerät mit den Kopfhörern ausgehändigt wird. Marianne dagegen möchte es ohne versuchen.
Die Führung dauert etwa 20 Minuten und gleich am Anfang weiß der deutschsprachige Erzähler mich zu fesseln: über den Vorgängerbau aus dem Jahre 1280 ist nur wenig bekannt. 1485 begann der Wiederaufbau der bei einem Stadtbrand zerstörten Kirche und in den zwanzig Jahren ab 1455 wurden die Glasfenster eingesetzt. 1573 übernahmen die Protestanten das Gebäude und die hatten es damals ja nicht so mit Kirchenschmuck (siehe reformatorischer Bildersturm ). Neben den 45 Altären sollten auch die Glasmalereien entfernt werden. Dagegen haben sich die Goudaer allerdings aufgelehnt und so durften die Kunstwerke bleiben. Am Ende seiner Einführung lenkt der Sprecher noch meinen Blick auf die bei den Protestanten übliche Ausrichtung der Sitzbänke hin zur Kanzel. Und dann schickt er mich zu einigen der insgesamt 72 farbigen Fenster und erklärt mir deren Bedeutung und Entstehung.
Oben in dem acht Meter hohen Fenster stürmen die vier apokalyptischen Reiter blitzschleudernd ins Bild, während die Realität in Form kleiner Flugzeuge nur silhouettenhaft angedeutet ist. Bauernhöfe versinken in überschwemmtem Land und Ruinen zerstörter Häuser ragen in den Himmel.
Darunter ist eine große Gruppe feiernder Menschen mit Fahnen zu sehen, mit einem Mann und einer Frau in der Mitte der Menge, mit Kindern um sie herum und Hunden auf beiden Seiten. Kleine Szenen am äußeren Rand des Fensters zeigen Aktivitäten der Besatzungsmacht: links erhängte Widerstandskämpfer, die Razzien und Konzentrationslager, rechts die Bürgerdeputation und die Judenverfolgung. Im unteren Bereich prangt links das Wappen von Gouda und rechts das der Niederlande. Ganz unten im Fenster sind die Wappen der elf Provinzen angebracht, darüber in einer Banderole Zeilen aus dem Gedicht „Unclaimed Deaths“ von Yge Foppema.
Und es sind nicht nur biblische Motive, sondern wichtige Ereignisse der Stadt- bzw. Landesgeschichte oder Allegorien zu Themen wie Gewissensfreiheit oder Krieg. Völlig aus dem Rahmen fällt das von Marc Mulder 2016 geschaffene Werk The freedom of conscience in 2016 , das anläßlich des 500. Geburtstages vom Buch Novum Instrumentum installiert wurde. Faszinierend.
Und warum sieht man in diesen Fensterbildern so oft Hunde? Klar, in Bildern der Renaissance sehen wir die häufiger in Porträts und Jagdszenen. Und da gibt deren genaue Darstellung Aufschluss über Status oder Charakter der dargestellten Personen. So stehen etwa Schoßhunde für Reichtum und Jagdhunde für Macht oder Adel der Porträtierten. In biblischen Darstellungen wie hier steht allerdings die Treue im Vordergrund, die Treue zum christlichen Glauben. Bei Frauenportraits übrigens auch schon mal die Treue zum Ehemann.
Während meiner Tour von Fenster zu Fenster spielt im Hintergrund die Orgel, was ich aber nicht weiter beachte – kommt ja schon mal vor, dass da ein Organist übt. Dann höre ich Tonfolgen, die so gar nicht zu Kirchenmusik passen. Irgendwie vertraut. Ich blicke mich um und entdecke den Bildschirm, der die Orgelklaviatur zeigt. Offensichtlich hat sich eine Gruppe spezieller Besucher um das Instrument versammelt und einer davon spielt „Axel F“ aus dem Soundtrack vom „Beverly Hills Cop“ – das hört sich etwa so an.
Ich hatte mich schon über die Kisten gewundert, die unter dem Fenster 28a stehen. Am Ende meiner Audioführung kommt die Erklärung: 1939 ahnte man schon in Gouda, dass Hitler die Niederlande überfallen würde. Die Fenstergläser wurden in solche Kisten sicher verpackt und versteckt. Schon kurz nach der Befreiung des Landes – so auch das Thema des Fensterbildes – schien die Sonne in das Gebäude wieder so farbenprächtig wie zuvor.
Ich schlendere an der Orgel vorbei in Richtung Ausgang und da kommt mir Marianne mit Kopfhörern entgegen. Wir sind beide begeistert von dieser Tour, die ohne Audioguide in der Tat nicht funktioniert.
Auf der Rückseite der Kirche begegnet uns der Autor des oben erwähnten, 500 Jahre alten Buches: Erasmus von Rotterdam war ein Zeitgenosse Martin Luthers , stand mit diesem in Briefkontakt und hatte dasselbe Ziel wie er: die Reform der katholischen Kirche. Ihre Beziehung endete aber im Streit, weil Erasmus die radikalen Ideen Luthers ablehnte.
Erasmus von Rotterdam, einer der größten Gelehrten seiner Zeit, lebte und arbeitete als Kosmopolit der Renaissance in England, Italien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Heute würde man ihn wahrscheinlich einen intellektuellen Superstar nennen. Als Kind von Gouda wird er deshalb auch touristisch vermarktet – zu Recht. Hier gibt es ein Zeitzeichen über ihn.
Gegenüber der Büste des Gelehrten steht die Skulptur eines Arbeiters an der Druckerpresse und das ist eine geniale Kombination, denn Erasmus sowie auch später Luther konnten ihre Ideen nur deshalb verbreiten, weil ein gewisser Johannes Gutenberg den Buchdruck erfunden hatte. Ohne die Presse würde es heute im öffentlichen Bewusstsein auch keinen Luther geben und damit vielleicht auch keine evangelische Kirche.
Radtour über den See
Heute möchten wir uns mal wieder mehr bewegen und nichts besichtigen. Nur eine kleine Radtour, nicht der Schreibe wert. Wer kann denn ahnen, dass uns schon wieder ein Superlativ erwartet. Wir fahren zu den Reeuwijker Seen drei Kilometer vom Stellplatz entfernt, die man auch als einen einzigen, von Straßen durchzogenen, großen See betrachten könnte.
Das Wetter ist wechselhaft. Einmal erwischt uns ein heftiger Schauer und wir suchen Schutz unter zwei kleinen Bäumen, was mehr schlecht als recht funktioniert. Der Himmel ist durchgängig grau soweit das Auge reicht, und wir fragen uns, ob es das war mit unserer Tour. Keine 10 Minuten später herrscht wieder eitel Sonnenschein. Wir radeln weiter über sehr schmale Straßen und hollandtypische Klappbrücken irgendwie immer am Wasser entlang durch Wiesen und Haine vorbei an schmucken (Ferien-)Häusern – unerwartet schön.
Alte Kirche
Weil das Parken am heutigen Sonntag auf Klein-Amerika kostenlos ist, verlassen wir Gouda erst morgen früh (um 9 Uhr beginnt die kostenpflichtige Zeit). Das Wetter spielt mit und so können wir noch einen kleinen Spaziergang im Ort machen. Wir gehen noch einmal um Sint-Jans herum und entdecken das Stadtmuseum, den kleinen Park daneben und das Café davor. Und dann folgen wir den Hinweisschildern zur Oude Kerk, zur alten Kirche.
Die Wegweiser am Straßenrand sind ja in Ordnung, aber wir sehen einfach keine Kirche. Bis wir vor einem Wohnhaus ein kleines Hinweisschild rechts neben einer hölzernen Tür entdeckten: Oud-Katholieke Kerk. Darunter ein holländischer Text. Wir müssen wohl einen sehr verwirrten Eindruck gemacht haben, denn eine alte, eine sehr alte Dame spricht uns an. Wir verstehen kein Wort.
Nachdem wir geklärt haben, wo wir herkommen, erzählt sie uns auf deutsch: Als die Katholiken nach der Übernahme von Sint-Jans durch die Protestanten 1573 ihre Kirche nicht mehr benutzen konnten, hat ein Pfarrer ein Wohnhaus gekauft, später noch eins daneben und dann noch ein drittes, und darin hat die katholische Gemeinde dann ihre Kirche eingebaut. Der alten Dame fällt es nicht leicht, die richtigen deutschen Wörter zu finden, aber sie gibt sich sichtbar Mühe. Supernett. Und dann schwärmt sie von ihrer Kirche, wie schön die doch geworden sei. Wir bedanken und verabschieden uns. Sie geht, steht aber plötzlich wieder neben uns und fragt: „Wollen sie sie sehen?“
Wir sind total geplättet und wissen erst gar nicht was wir sagen sollen. Dann nehmen wir das Angebot an, sie zieht einen Schlüssel aus der Tasche und führt uns in … den Flur einer Wohnung. Dort treffen wir mehrere Männer und sie erklärt denen, dass wir die Kirche sehen möchten. Von der Kommunikation verstehen wir nur: „Englisch? Ohh nein.“ Da fängt es für uns an unangenehm zu werden, aber schließlich erklärt sich wohl doch jemand bereit. Der freundliche Herr schließt eine Tür auf, geht hinein und macht sie vor unserer Nase wieder zu.
Sie erklärt: „Er muss erst die Alarmanlage ausschalten.“ Die Tür öffnet sich wieder, wir gehen in einen Saal mit hohen Decken und stehen … in einem Gotteshaus. Der freundliche Herr entschuldigt sich für sein schlechtes Englisch, aber wir kommen zurecht. Ich frage ihn, ob diese versteckte Kirche vor den Protestanten geheim gehalten werden musste. Er winkt ab: „No, no, Gouda is a liberal town.“
Wieder zurück auf der Straße sind wir überwältigt, ein bisschen von dieser ungewöhnlichen Kirche, aber vor allem von der Liebenswürdigkeit dieser Menschen.
Vaarweel
Das war unser Besuch in Gouda. Wir möchten mal wieder ausgiebig baden, sagen Gouda mit seinem außergewöhnlichen Wohnmobilstellplatz „vaarwel“ und fahren zu einem Hallenbad – 150 Kilometer weiter in Bornem.