Nach Calais fährt man hin … um wieder wegzufahren – entweder mit der Fähre oder durch den Tunnel nach Dover. Dabei ist die Hafenstadt nicht nur selbst eine Reise wert, sondern auch ein guter Ausgangspunkt, um die Normandie und die charmanten Fischerdörfer an der Côte d'Opale zu erkunden. Ja und dann ist da noch die weltberühmte Spitze von Calais.

 

Da habe ich ja schon lange drauf gewartet: Wir fahren die eng zugeparkte Hauptstraße durch Bleriot Plage, einem Vorort von Calais, und mir kommt eine überbreite Landyacht  entgegen. Ein heftiger Knall und unser Kasten hat eins seiner Ohren angelegt.

Ich habe so etwas schon einmal erlebt als Beifahrer im LKW von Norbert. Damals war es ein anderer LKW und Norberts Außenspiegel war total zerschmettert. „Und was machst du jetzt?“ habe ich ihn gefragt. „Nichts“, war die Antwort, „da kann man nichts machen. Wie soll man hier herausfinden oder gar beweisen, wer zu weit in die Mitte gefahren ist.“ Und er fuhr einfach weiter.

Der Campingplatz

 

Das mache ich jetzt auch. Zum Campingplatz „Du Fort Lapin“  ist es nicht mehr weit und dort kann ich mir den Schaden in Ruhe anschauen. In der kurzen Einfahrt zum Platz ist aber erst mal Stau. Es ist 15.30 Uhr und im Netz geistert die Information herum, dass Einchecken erst ab 16 Uhr möglich ist. Tatsächlich ist die Mittagspause der Rezeption aber schon um 15 Uhr vorbei.

Wir bräuchten mal einen Stromanschluss, um das Akku vom Pedelec wieder aufzuladen. Das scheint aber nicht so einfach zu sein, denn der Platz ist fast ausgebucht. Nach längerer „Recherche“ (ähh … Informationszeitalter ?) hat unsere Empfangsdame dann noch einen Stellplatz (den letzten mit Strom) gefunden. Zwischen uns und dem Sanitärgebäude wird ein weiteres Wohnmobil stehen und so bekommen wir den Durchgangsverkehr dorthin kaum mit und sind trotzdem nahebei.

Von der Website des Campingplatzes: Situé entre Calais, Sangatte et Blériot-Plage, le camping du Fort-Lapin vous offre calme et tranquillité à moins de 100 mètres de la plage, de ses dunes et de son sable fin.(Google, übersetz mir das, s'il vous plaît. )

Unser Weg zum Strand

Also keine 100 Meter bis zum Strand – wegen des kleinen Umwegs über das mit Codeschloss gesicherte Tor und durch die Dünen ist es für uns etwas weiter, aber wir brauchen bis zum Meer keine fünf Minuten. Dort stehen wir auch nicht lange nach der Ankunft. Wir werden später die Strecke von hier bis zur Promenade in Calais am Strand entlang in 30 bis 45 Minuten laufen.

Marianne hatte 3 Übernachtungen gebucht und das wären nur zwei volle Tage. Das Wetter ist gut, der Strand verlockend, ein Campingplatz komfortabel und die Aussicht, Calais in aller Ruhe erforschen zu können, lässt uns gleich eine Verlängerung beantragen, die auch (nach längerem Stirnrunzeln in der Rezeption) genehmigt wird. Von der im Netz beschriebenen Unfreundlichkeit des Personals hier spüren wir aber nichts.

Und der Spiegel? Der war wohl härter im Nehmen als der von Norbert. Bis auf ein paar Kratzer an der Kante augenscheinlich keine Schäden. Glück gehabt.

Street Art

 

Wir werden es leider verpassen: Das seit 2020 alljährlich in Calais veranstaltete Street Art Festival beginnt am 14. Juli und endet am 15. August. Aber es hat ja schon vier davon gegeben und die Spuren sind in der ganzen Stadt sichtbar. Wir könnten jetzt im Rahmen einer Streetart-Tour die einzelnen Malereien ablaufen, aber ist es nicht viel schöner, wenn man auf Spaziergängen von so einem Kunstwerk überrascht wird? Ich streue deshalb einfach mal ein paar Bilder davon in diesen Artikel ein. Wer die Tour gehen möchte, kann dies mit Hilfe dieser Website  tun.

Das Monster

Eine ganz andere Art von Street Art kommt von der Künstlergruppe La Machine   . 72 Tonnen Stahl und Holz schieben sich seit 2019 knurrend mit gelegentlichem Flügelschlagen über die Strandpromenade: der Drache von Calais  kann Rauch und Feuer speien. Der Schwanz ähnelt dem eines Skorpions, wenn er sich drohend den umstehenden Menschen zuwendet. François Delarozière    und sein Team bringen schon seit mehr als 30 Jahren fantasievolle Wesen auf die Leinwand französischer Stadtkulissen. Der Elefant in Nantes  und der Minotaurus in Toulouse  gehören wohl zu den bekanntesten.

Das Monster in seinem Käfig

Das erste Mal habe ich das Monster regungslos in seinem Käfig gesehen und da sieht er schon imposant aus. Jetzt beim zweiten Mal hat man ihn freigelassen und er fährt (weil auf einem LKW montiert) sehr langsam (er kann maximal 4 km/h) über den Vorplatz der Halle. Etwa 20 Leute haben die 10 Euro für einen Ritt bezahlt und stehen nun oben in der übergroßen Sänfte. „Ist das aufregend?“, frage ich mich: „Was soll das denn für eine Attraktion sein?“

Nun, abgesehen von dem ganz klar besseren Ausblick in den Hafen und die andere Perspektive auf den Kopf und den darin sitzenden Steuermann kann ich dem zunächst nichts abgewinnen. Klar, könnte ja mal mitfahren, um es selbst zu erleben. Brauche ich aber nicht, denn …


Ein Denkmal das sich bewegt

… wenn man das ganze Spektakel weniger als Jahrmarktattraktion, sondern als Kunstwerk oder Industriedenkmal betrachtet, dann verschiebt sich der Fokus. Da sind zunächst die ungelenken Bewegungen der Beine, die sich zwar bewegen als würde er laufen, aber den Boden nie berühren – als Animation jämmerlich, aber als Maschine faszinierend. Kopf und Schwanz bewegen sich da schon etwas geschmeidiger. Ich muss direkt daran denken, was für ein perfekter Organismus dagegen Mensch und Tier sind.

 

Dann das Team: Einer im Kopf steuert denselben, eine hinten in der Sänfte bewegt den Schwanz, eine im Cockpit fährt die Zugmaschine, eine vorauslaufend mit einer Fernbedienung (wozu auch immer), ein Mitläufer vielleicht zur Sicherheit und schließlich die Kommentatorin als Reisebegleitung. Alle Maschinist(inn)en tragen Sonnenbrillen, Overalls und sehen mit ihren Headsets fast aus wie Flieger des 19. Jahrhunderts – auf jeden Fall aber wie aus einer anderen Welt. Und dann der Sound, der Rauch aus den Nüstern, das Aufreißen des Mauls und Spiel der Zunge, der Miniflammenwerfer und … tatsächlich, die Bewegung in Zeitlupe – das alles fügt sich zu einer surrealen Szene.

Kein Wunder, dass sich der Drache mittlerweile zum Wahrzeichen von Calais entwickelt hat. Claudia Schaumann ist 2023 mit geritten und hat in ihrem Artikel über Calais  die Aussicht über den Drachenkopf hinweg abgebildet.

Cité de la Dentelle et de la Mode

Cite Dentelle: Stätte mit der Delle oder doch was ganz anderes

 

Und noch eine Maschine habe ich mir angesehen im Museum für Spitze und Mode   . Schon das Äußere des Gebäudes fällt auf: Ein Lochkartenmuster in der Verglasung, eine Beule und eine Delle. Die Verformungen sollen an die Beziehung der beiden, durch die Wellen des Ärmelkanals getrennten Länder erinnern. Mir drängt sich fast der Eindruck auf, dass da etwas ist, das dem kleinen England entnommen das große Frankreich bereichert hat. Tatsächlich wurden die ersten der hier gezeigten Art von Maschinen von drei Engländern über den Ärmelkanal geschmuggelt – sehr riskant, denn die Ausfuhr von Technik wurde mit dem Tod bestraft.

Lochkarten steuern die Spitzenmaschine

Die Dauerausstellung der „Cite Dentelle“ startet mit der Geschichte der traditionellen Spitzenherstellung vielerorts in Europa. Weiter geht es mit handgefertigte Spitzen und Reproduktionen von Gemälden, die in Spitzenmuster integriert wurden. Zahlreiche Musterbücher, Spitzenvariationen und ein Diorama zur Stadtentwicklung dokumentieren den Werdegang dieser Industrie in Calais.

Spitzenmode aus dem 20. und 21. Jahrhundert

Für mich besonders interessant: die Vorführung der alten Spitzenmaschine (Film dazu ). Der „Tulliste“, wie die Handwerker dieser Sparte genannt werden, schaltet die Maschine ein und sofort erfüllt ohrenbetäubender, aber rhythmischer Lärm die Halle. Seine Erklärungen sind (naturellement) in französisch – ich verstehe also kein einziges Wort. Die Funktionsweise der offenliegenden Lochkartensteuerung ist ja noch einsichtig, aber der eigentlich interessante Teil bleibt mir verborgen: die im Innern der Maschine stattfindende Verknüpfung der Fäden.

Mein Rundgang endet mit einem Einblick in die Spitzenmode des 20. und 21. Jahrhunderts. Hier bekomme ich ein Gefühl dafür, welchen Platz die Spitze in der Mode hatte und anscheinend auch weiterhin haben wird, denn Spitze als Modetrend  ist wieder aktuell. Ich jedenfalls habe nach meinem Besuch hier deutlich mehr Ehrfurcht vor diesem Material. Einen ausführlichen Text zum Museum findest du hier .

Cap Blanc Nez

Veloroute, das bedeutet doch Radweg, oder?

Acht Kilometer sind es vom Campingplatz bis zum Kap mit der weißen Nase. Weil uns das zum Wandern etwas weit erscheint, bereiten wir die Räder vor. An der Straße (D940) gibt es keinen Radweg und wir entscheiden und für die blaue Veloroute E4. Wäre das Symbol in der Legende der Karte ein Mountainbike gewesen, dann hätten wir uns das vielleicht überlegt. So fahren wir blauäugig den zunächst leicht ansteigenden Weg hinauf, der sich zum schmalen Schotterpfad verjüngt. Bald tauschen wir zum Schieben die unterschiedlich schweren Räder und etwas später schiebe ich beide Räder eine Steigung hoch.

Eigentlich fahren wir hier hoch wegen der Aussicht.

Oben auf einer vielleicht 150 Meter hohen Kuppe können wir fast die vorüberziehenden Wolken berühren. Dann geht es wieder einen steilen Abhang hinunter, was auf Schotterpisten mit dafür ungeeigneten Rädern nicht sooo viel Spaß macht. Unten angekommen machen wir den zweiten Fehler des Tages:

Das Ehrenmal der Dover Patrol

Wir fahren nicht die Straße zum Kap hoch, sondern die Rue de la Mer hinunter in Richtung der Klippen beim „Widerstandsnest 111 Wolfsschlucht“. Vom Parkplatz (nirgendwo Fahrradständer) schauen wir hoch zum Obelisken am Ehrenmal der Dover Patrouille , der kaum zu sehen ist in den Wolken. „Wollen wir da wirklich hoch?“ frage ich wieder einmal, denn in den Wolken kann ich keine Bilder machen. Knappe Antwort: „Dann hätten wir uns ja umsonst hierhin gequält. Nee, wir gehen da jetzt hoch.“

Trübe Aussichten

Vorher gehen wir aber erst mal runter durch die Wolfsschlucht zu besagtem Bauwerk des Atlantikwalls, das heute eher als Sonnenterrasse dient. Die weißen Kreidefelsen rechts und links davon sind schon beeindruckend, aber bei dem Wetter gibt es auch nur trübe Bilder.

Mit Brautkleid in den Bergen

Der Aufstieg zum Ehrenmal ist dann doch anstrengender als gedacht, weil der Weg erst mal um den Berg herum führt und dann erst hoch zum Obelisk. Unterwegs kommt uns ein Brautpaar mit Fotograf und Blumenkindern in feierlicher Kleidung entgegen. „Wow“, denke ich, „haben sich die Mühe gemacht und sind hier hinauf gestiegen, und jetzt ist die Sonne weg. Was für eine Enttäuschung!“

Und schon lerne ich wieder etwas: Das ist nämlich wie mit den Vögeln auf See, an denen die Seeleute erkennen, dass Land in der Nähe ist. Begegnet dir eine Braut im Brautkleid in den Bergen, dann ist ein Parkplatz nicht weit – den wir dann auch wenige Minuten später sehen, und zu dem wir auch schneller gekommen wären, wenn wir den zweiten Fehler nicht gemacht hätten.

Gute Sicht ins Land hinein, aber der Kanal ist weg.

Aber wie das so ist: Oben auf einem Berg ist es erst richtig schön, wenn der Aufstieg anstrengend war. Und die Wolken haben sich in der Zwischenzeit hier oben auch verzogen. Wir haben sonniges Wetter und eine Supersicht … nach Osten ins Land. Vom Wasser des Kanals ist vor lauter Dunst nichts zu sehen – die Wolkendecke hängt vor dem Kap fest. Dafür hören wir andauernd Nebelhörner. Na toll.

Kreidefelsen am Widerstandsnest 111

Als wir wieder unten sind, ist die Sicht am Strand etwas besser als vor unserem Aufstieg, und so gehe ich nochmal die Schlucht hinunter und fotografiere die Kreidefelsen ein zweites Mal. Na ja, und dann fahren wir auf dem Rückweg genau die ziemlich steile Straße hoch, die wir vor einigen Stunden verschmäht haben. Hätten wir allerdings den zweiten Fehler nicht gemacht, wären uns die Kreidefelsen am Strand entgangen. Tja, man weiß nie wofür es gut ist …

Bürger von Calais

Eines der schönsten Rathäuser, die wir bisher gesehen haben

Das Rathaus im Stil der flämischen Renaissance wurde erst in den 1910ern erbaut und hat einen Glockenturm (Belfried ). Er gehört wie der Wachtturm    sowie 21 weitere Glockentürme der Region zum Weltkulturerbe. Der kleine Park vor dem Bauwerk trägt nicht wenig zur Attraktivität des Platzes bei. Die Krönung an diesem Ort ist aber für mich die Skulptur von Auguste Rodin : Die Bürger von Calais .

Mit den Bürgern von Calais provozierte Auguste Rodin einen Skandal

Rodin stellte die historischen Personen nicht – wie von den Auftraggebern gewünscht – als Helden voller Tapferkeit, Mut und Tatendrang dar (siehe Rodin-Skandal ), sondern als niedergeschlagene und bedrückte Menschen. Er verlieh der Gefühlswelt seiner Figuren einen starken Ausdruck durch Haltung und Mimik. Ihre Trauer und Verzweiflung ist eindeutig spürbar. Faszinierend.

 

Einer von den Bürgern, der auffälligste unter ihnen weil sehr dynamisch auftretend, ist Pierre de Wissant, von dem man wegen des Namens annimmt, dass er ein Bürger der Stadt ist, die wir als nächstes ansteuern.