Wir haben wieder mal einen Katzensprung gemacht: 15 Kilometer sind es von Calais bis Wissant. Eigentlich wollten wir hier nur eine Runde spazieren gehen und dann weiterfahren nach Wimereux, um dort zu übernachten. Und wieder ändern wir unsere Planung.
Zwischen den beiden Landzungen Cap Gris-Nez und Cap Blanc-Nez erstreckt sich die Bucht von Wissant über 12 km Sandstrand, nur unterbrochen von winzigen Dörfern, die entlang der so treffend genannten „Straße der Felsvorsprünge“ (Route de la Corniche) entdeckt werden können: Audinghen, Tardinghen, Wissant, Escalles.
Am Strand
Wir sind in Wissant und kommen gerade von einem Spaziergang die Strandpromenade entlang. Schon der 900 Meter lange und schattige Weg dorthin an der Seite des Baches Herlen hatte Charme. Dann der kilometerlange Strand mit Blick auf die Kreidefelsen vom Cap Blanc-Nez, auf dass wir uns erst vorgestern herauf bemüht haben, der blaue Himmel und die gemäßigten Temperaturen …
Auch die hügelige Landschaft auf dem Weg von Calais bis hier hin war der Hammer: Blauer Himmel, hellgrüne Wiesen mit dunkelgrünen Einsprengseln, helle Stoppelfelder und dunkle Äcker sowie das blau-grüne Meer mit den weißen Schaumkronen – ja wir konnten sogar zum ersten Mal die Küste von England sehen. Einfach schön.
Die Landschaft um uns herum auf dem Stellplatz (45 Plätze und fast voll) ist allerdings vor lauter weißen Blech- und PVC-Wänden kaum zu sehen. Dafür ist der Platz umsonst – Gelegenheit also, um unseren Übernachtungspreisschnitt zu senken. Wir bleiben erst mal.
Anders als in Calais ähnelt die Promenade von Wissant mehr der auf unseren ostfriesischen Inseln – statt Betonwaben sehen wir kleine Ferienhäuser. Direkt am Strand gibt es auch nur zwei Bistros und nicht Dutzende von Eiswagen. Da der kleine Ort mit etwa 850 Einwohnern ein beliebter Kite- und Surfspot ist, haben wir wieder mal ausgiebig Gelegenheit, den Sportlern bei ihren Kunststücken zuzusehen. Beim Rückweg über den Marktplatz merkt man dann schon, dass Tourismus hier eine Hauptrolle spielt: Relativ viel Gastronomie und der übliche Sommerurlaubsbedarf.
Der Malerweg
Am Strand haben wir eine Gruppe Jugendlicher beim Malen zugesehen. Dass die ausgerechnet hier anzutreffen sind ist wohl kein Zufall. In den 1880er/1890er Jahren entstand in Wissant eine Schule der naturalistischen Freilicht- und Genremalerei (École de Wissant), die durch ihre Bilder des Dorfes und der Landschaft rund um den Herlen sowie durch Studien des Alltags der Fischer bekannt wurde.
Auf dem Malerweg (Plan der Tour ) hier im Ort entdecken wir einzelne Werke dieser Künstler, die sich von der außergewöhnlichen Schönheit der Landschaft zwischen den Kaps und dem Licht von Wissant und seiner Bucht verführen ließen. In seiner langen Version ist er 7 km lang und führt entlang der Deiche, schlängelt sich durch den Ort und geht schließlich in die Pfade des Hinterlands über.
Unterwegs kommt man auch am Haus der Fischer vorbei und lernt etwas über die Entstehung von „L’Homme et en Mer“ der Malerin Virginie Demont-Breton :
Eines Tages sieht die Künstlerin durch eine offene Tür eine junge verängstigte Fischersfrau mit ihrem Kind auf dem Schoß, die auf die Heimkehr ihres Mannes wartet.
Demont-Breton stellte ihr Gemälde auf dem „Pariser Salon von 1889“ vor. Schon im Oktober des gleichen Jahres hatte Vincent van Gogh eine Kopie angefertigt, die nach Vorlage eines Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeitung „Le Monde“ in Saint-Remy entstand und 1905 im Pariser Salon zu sehen war. Genauso beeindruckend von derselben Künstlerin: das Bild der Fischersfrau, die ihre Kinder nach dem Bad elegant über ein paar Steinbrocken balanciert.
Cap Gris Nez
Drei Tage bleiben wir auf dem kostenlosen Stellplatz in Wissant, wo man zwar die Toilette entsorgen, aber kein Wasser tanken kann – und das wird jetzt knapp, da wir aus Gewichtsgründen immer mit einem maximal halbvollen Wasser- und Diesel-Tank durch die Gegend fahren. In Wimereux ist ein Carre-Four-Supermarkt mit Tankstelle, und da ich mir den Ort sowieso ansehen wollte …
Auf dem Weg dorthin kommen wir an einer Abzweigung zum Kap der grauen Nase vorbei und überlegen kurz, ob wir das noch mitnehmen wollen. Das ist ja das Schöne an Frankreich, dass man bei den vielen Kreisverkehren für solche Überlegungen nicht extra anhalten muss. Das Kap hat diesen Namen, weil der offenliegende Fels grau ist – im Gegensatz zu dem in Sichtweite nördlich liegenden Kap der weißen Nase, bei dem hell leuchtendes Kreide-Gestein zu Tage tritt.
Wir biegen trotz des trüben Wetters ab und das ist eine gute Entscheidung. Anders als Cap Blanc Nez, dass auch – bis auf die (eventuelle) Aussicht – touristisch eher blank ist, wird uns hier einiges geboten. Da wäre zunächst der Leuchtturm, von dem aus der gesamte Schiffsverkehr auf dem Ärmelkanal von der französischen Seite aus überwacht wird. Diese Funktion wird ausführlich auch in deutsch erklärt auf einer Schautafel, von denen hier oben einige stehen. 33 Kilometer sind es vom Cap Gris-Nez bis zum Shakespeare Cliff bei Dover. Wir stehen also an der Stelle, wo die Entfernung zwischen EU und England am kürzesten ist. Deshalb starten hier auch meistens die Kanalschwimmer .
Eine weitere Tafel zeigt Abschnitte aus der Geschichte des Kaps. Der erste ist betitelt mit „1900 – Die Zöllner: Das Cap Gris-Nez war schon immer ein strategisch bedeutender Ort. Seine ins Meer hineinragende Lage ermöglicht eine außerordentliche gute Panoramasicht auf die Meerenge von Pas-de-Calais und die Küste Englands: Ein idealer Ort, um dort im 18. Jahrhundert einen Wachtposten zu errichten, der »la maison du guet« (Haus der Wache) genannt wurde. Nach der Revolution wurde hier eine Zollstation gegründet, die den Bau einer Kaserne nach sich zog. Die Zöllner, die auch »die Felspapageien« oder die »Ameisenzertreter« (les écraseurs de fourmis) genannt wurden, streiften den ganzen Tag entlang der Strände und durch die Klippen, und traten so einen Weg aus, der seit damals als »Zöllnerweg« bezeichnet wird. Mit Einbruch der Nacht bezogen sie in den Felsen Posten, wo sie die Nacht auf dem Boden verbrachten. Die Zollstation des Gris-Nez wurde 1934 geschlossen. Das einzige Zeugnis dieser Zeit: Ein Wachhäuschen aus Stein, das verloren am Rande der Felsen steht.
Die Zeitleiste endet mit dem Abschnitt, in dem es um die Artillerieduelle zwischen Deutschen und Briten geht (1942 – Der Hellfire Corner). An dieser Stelle wird einem bewusst, wie weit die damaligen Kanonen ihre Geschosse treiben konnten. Und beim Anblick der Bunker und Geschützstellungen hier oben versuche ich mir wieder mal vorzustellen, was deren deutsche Besatzungen wohl im September 1944 empfunden haben, als um sie herum das Höllenfeuer ausbrach, von dem die vielen Bombentrichter heute noch zeugen.
Aber es gibt ja auch schöne Dinge hier. Mehrere Aussichtspunkte bieten (bei schönem Wetter) einen fantastisches Blick über den Kanal nach England. Eine Bildergalerie am Wegesrand zeigt farbenprächtige Bilder von Sehenswürdigkeiten der Gegend zwischen den Caps – falls den Besuchern noch nicht klar ist, was man sich sonst noch anschauen könnte. Auch der Rundweg hier oben ist schön angelegt und abwechslungsreich. Ein Abstecher zur im Geländeplan verzeichneten Festung Heinrich des VIII lohnt sich allerdings nicht, denn für die paar Steine im Gras ist selbst die Bezeichnung „Ruine“ noch geschmeichelt.
Wimereux
Wir stehen inzwischen in Wimereux am Supermarkt. Weil wir uns hier nicht lange aufhalten wollen, marschiere ich nach dem Einkaufen alleine los. Auf einer Tourismus-Marketing-Seite habe ich gelesen: Wimereux ist ein charmanter Badeort an der nordfranzösischen Opalküste. Zahlreiche Villen zeugen von der außergewöhnlichen Beliebtheit, die der Ferienort bereits in der Belle Époque genoss, und die Strandpromenade ist auch heute noch eine der beeindruckendsten von Nordfrankreich.
Das will ich mir nicht entgehen lassen. Voller Erwartungen betrete ich die Promenade und … bin erst mal enttäuscht. Okay, es ist kein Wasser da, aber eine Belle-Époque-Promenade haben wir schöner letztes Jahr in Le Treport gesehen. Auf der Tourismus-Seite heißt es weiter: Der weite Sandstrand schwindet mit der Flut, die bei höherem Gezeitenstand bis zum Deich der Strandpromenade reicht. Kein Wunder, dass die obligatorischen Strandhäuschen dort oben auf der Promenade Zuflucht gefunden haben – stellenweise sogar in zwei Reihen.
Stimmt, aber schön ist das nicht, aber vielleicht sollen die Strandhütten ja auch ablenken von den maroden Gebäuden dahinter. Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Es gibt sie, die hübschen, bunt zurecht gemachten Villen und Häuschen mit den Giebeln und Türmchen, aber für einen charmanten Gesamteindruck reicht das bei mir nicht. Die quirlige Haupteinkaufsstraße ist ganz nett, aber auch nichts besonderes.
Die Wasserseite dagegen ist weniger eintönig als in Wissant – bei Ebbe kommt eben nicht nur Sand, sondern auch – wie soll ich es nennen – so eine Art steinharte Crème Brûlée zum Vorschein. Auch die Mündung der Wimereux und das Eisenbahnviadukt neben der Kirche bringen etwas Abwechslung in meinen Spaziergang.
Ich glaube, dass Wimereux für diejenigen die bessere Wahl ist, die es etwas mondäner und quirliger haben wollen mit einem breiteren Angebot an Unterhaltung, Shopping oder Schlemmen. Wissant dagegen ist schon übersichtlicher und wirkt eher entschleunigend als aufregend.
Tanken
Ich bin wieder zurück am Supermarkt und wir wollen dort noch eben tanken. Das gestaltet sich aber schwieriger als gedacht. Am Fuße der Tanksäulen sehen wir feuchte Bereiche und aus dem Anblick des Fahrers, der seinen Van auf dem Fahrersitz sitzend mit dem Zapfhahn in der Hand betankt, schließen wir, dass das kein Regen ist. Auch die „trockene“ Nur-Diesel-Säule bekomme ich nicht zugange – an der fehlt auch der Kartenzahlautomat und ich weiß nicht, was man hier tun muss, um die Pumpe zu aktivieren. Die folgende Irrfahrt durch die Stadt führt uns zu einer Werkstatt mit Esso-Zapfsäulen und Preisen wie auf der Autobahn. Aber wie heißt es so schön: „Hohe Spritpreise tangieren mich nicht – ich tanke immer für 30 Euro.“ Tatsache.
Wir fahren weiter nach Neufchâtel en Bray und bleiben dort eine Nacht auf einem kleinen, liebevoll gestalteten Campingplatz. Von dort geht es weiter nach Insigny sur Mer, einer Stadt, deren Name nicht zufällig so ähnlich klingt wie „Disney“.