Schon beim ersten Spaziergang an der Strandpromenade von Urk haben wir das Gefühl, dass hier etwas anders läuft. Es ist Sonntag und wir sehen viele Mädchen und junge Frauen denen mit Röcken oder Kleidern – nicht besonders festlich oder flott, eher sehr zurückhaltend, ja fast schon schlicht. „Vielleicht ist hier irgendwo ein Fest?“ denken wir, kommen der Ursache aber nicht auf die Spur. Wir werden später feststellen, dass Urk so ganz anders tickt als der Rest der Niederlande.

Ende Februar, auf meiner Fahrt nach Amsterdam, habe ich schon einmal Station in Urk       gemacht. Man hatte mir vorher viel von dem kleinen, idyllischen Fischerdorf am IJsselmeer erzählt. In der Tat, ich war schon beim ersten Spaziergang von den vielen kleinen Häusern ohne Gardinen, den schmalen Gassen und dem Hafen samt seiner Promenade begeistert. Das Wetter war bescheiden. Der Wind peitschte über das Wasser und so hatte das IJsselmeer mehr Wellengang als erwartet. Ein Regenschauer jagte den anderen, aber in den Sonnenpausen zeigt sich Urk von seiner schönsten Seite, als ich nahezu mutterseelenallein durch die Gassen schlenderte.

Sonntag: Die Anfahrt


Schattiger Platz statt Womo-Parkplatz vor dem Tor

Der Aussichtsturm – nicht besonders hoch, aber schöner Rundblick

Diesen schönen Flecken will ich Marianne unbedingt zeigen und so fahren wir heute am Sonntag von Hasselt nach Urk. Ich bin ein wenig verärgert, weil sie in Hasselt schon „hinter meinem Rücken“ am Campingplatz  nach einem Platz gefragt hat und nach einer positiven Rückmeldung von dort auch festen Willens war dort unterzukommen. Ich wollte wie im Februar auf den Wohnmobilstellplatz im Hafen mitten in der Stadt, denn der Campingplatz liegt etwa 3 km außerhalb von Urk. So bin ich bei der Einfahrt in den Ort auf eine Auseinandersetzung vorbereitet – lasse mich dann aber doch schnell überzeugen. Bei der Einfahrt zum Campingplatz sehen wir die schattenarmen Stellplätze vor dem eigentlichen Camping- bzw. Ferienpark und entscheiden uns, ein paar Euro mehr für Luxus auszugeben. Später am Abend machen wir noch eine kleine Radtour zum Hafen und genießen dort die Stimmung bei untergehender Sonne.


Zwei Deiche (von Lemmer und von Vollenhove) führen nach Urk

Urk war mal eine Insel. Ende der 1930er Jahre errichteten die Niederländer im IJsselmeer zwei Deiche mit einer Länge von zusammen 55 Kilometern. Einer begann bei Lemmer in der Provinz Friesland, der andere bei Vollenhove in der Provinz Overijssel. Beide Deiche trafen bei der Insel Urk zusammen. Das Land hinter den Deichen wurde entwässert und ab 1939 war Urk dann Teil vom Festland des neuen Nordostpolders.

Dennoch wohnen die Leute dort nach wie vor nicht „in“ sondern „auf“ Urk. Die Stadt gehört auch nicht wie der gesamte Rest des Polders zur Gemeinde Nordostpolder, sondern ist eine selbständige Gemeinde geblieben. Eigensinnige Leute, diese Urker.

Als Urk noch vom Wasser umgeben war, blieb den Bewohnern nicht viel Platz für ihre Häuser und Gärten. Deshalb wurde hier alles dicht aneinander gebaut und die Straßen zwischen den Häusern sind sehr schmal. So entstand das kleine Stadtzentrum mit einem Labyrinth aus schmalen Gassen, den sogenannten Ginkies. Die Urker Stadtführer nehmen euch gern mit auf eine Ginkie-Tour und erzählen dabei mehr von der besonderen Geschichte des Fischerdorfes.

Montag: Die große Radtour


Schöner Rad-/Fußweg vom Campingplatz zum Leuchtturm (4 km)

Heute lassen wir uns etwas mehr Zeit für unsere Besichtigung. Unser vier Kilometer langer Radweg vom Campingplatz in die Stadt führt zunächst durch Wald und an einem Landschaftsschutzgebiet vorbei. Dann geht es rauf auf den Deich und ein Stück am Wasser entlang. Kurz vor dem Leuchtturm, der bedauerlicherweise ein Baugerüst angezogen hat, legen wir eine Pause ein, fotografieren Stockrosen und schauen dem Treiben am Strand zu.


Weg vom Leuchtturm Richtung Campingplatz

Dann geht es weiter zum Gemeentehaven. Dort ist nämlich die Touristen-Information mit der einzigen öffentlichen Toilette, die wir im Ort angetroffen haben. Das Betreten kostet 1 Euro und kann nur bargeldlos entrichtet werden. Unsere SparkassenCard wird akzeptiert. Premiere! Ich begutachte in der Wartezeit den Orka um die Ecke. „De Orca“ ist eine Skulptur, die 1968 zum 1000-jährigen Bestehen der Stadt enthüllt wurde. Urk ist in alten Seekarten mit Ork beschriftet, da war der Orka wohl naheliegend. Also für irgendwen.


Bargeldlos-WC, Touristen-Info und Orka

Stockrosen am Meer

Rund um Orka und Touristen-Info ist Hafen. Auch der Wohnmobilstellplatz ist von hier gut zu überblicken. Auf der Rückseite der Touristen-Info befinden sich auch die Toiletten und Duschräume für Freizeitkapitäne und Wohnmobile. Da kommt man mit einem Code hinein, der auf der Quittung steht, die man nach Vorauszahlung der Übernachtungsgebühr bekommt. Na ja, und die Toiletten … ich meine, für die Besatzungen superteurer Segeljachten mag das normal sein, aber für Wohnmobilfahrer ist es sicher außergewöhnlich: beim Betreten der sanitären Anlagen erklingt Musik. Überhaupt sind die Räumlichkeiten sehr sauber und komfortabel (Waschmaschine, Trockner, Bücherregal) eingerichtet.

Der Wohnmobilstellplatz hier im Hafen ist nur eine Ecke eines ansonsten großen Parkplatzes. Als sich Marianne des ganzen Trubels auf dem Gelände bewusst wird, der sicherlich bis in die Abendstunden andauert, war sie dreimal froh, sich für einen relativ ruhigen Schlafplatz entschieden zu haben. Und ich eigentlich auch.



Erinnerung an die Fischer die auf See geblieben sind

Wir gehen durch die Gienkies hoch zum Leuchtturm, der sich mit seiner Verkleidung gerade nicht als Selfie-Hintergrund eignet. 160 Meter weiter rechts aber auf einer Plattform mit Blick aufs Meer ist das Vissersmonument, gewidmet den Fischern aus Urk, die auf See umgekommen sind. Jeder einzelne davon ist auf einer der Gedenktafeln mit Name, Todesjahr und Alter verzeichnet. Und es sind viele Tafeln. Eine steinerne Frau auf einem Podest schaut in Richtung Meer, ihr Rock wird vom stürmischen Wind nach vorn geweht. Es drängt sich natürlich das Bild einer Fischersfrau auf, die nichts Gutes ahnend nach dem Kutter mit ihrem Geliebten Ausschau hält, der eigentlich schon längst wieder da sein müsste, aber doch nicht kommt. Nie mehr.

41 und 27 Jahre alt – die beiden letzten Einträge sind von 2019. Diese Stelle ist mal wieder ein Ort, um einen Moment innezuhalten und sich der Begrenztheit unserer Existenz bewusst zu werden.

Nicht weit entfernt vom VissersMonument ist die Keerkje an de Zee, das älteste Gebäude in Urk. Hier fand 2010 eine spezielle Beerdigung statt: Sechs Schädel unbekannter Einwohner, die im 19. Jahrhundert zu wissenschaftlichen Zwecken geborgen wurden (die Urker sprechen von Grabraub), fanden hier ihre letzte Ruhe. Diese Tatsache ist an sich nicht so bemerkenswert, würde da nicht eine andere dran hängen, die kein gutes Licht (siehe Kraniometrie ) wirft auf die Wissenschaften zu Beginn des letzten Jahrhunderts (diese Infotafel    hängt am Zaun der Kirche).

Die Eisläufer


Gerade eingebrochen ziehen die Männer das Boot wieder aufs Eis

Am Ortseingang strampeln sich die zehn Eisläufer ab. Das Kunstwerk "De IJsloper" ist der Besatzung eines Bootes gewidmet, das in strengen Wintern, wenn die ehemalige Insel Urk durch das Eis auf der Zuiderzee isoliert war, die Verbindung mit dem "Festland" Kampen und der Insel Schokland aufrecht erhielt. Das war damals die einzige Möglichkeit für den Transport der Post, die Verlegung von Kranken, die Bergung verstorbener Mitbürger, die spärliche Versorgung mit Proviant sowie die Rettung von Menschen aus im Eis festsitzenden Schiffen. Vor dem Aufkommen von Telegraf und Telefon waren die Reisen der Eisläufer zudem der einzige Kontakt zwischen Urk und dem Rest der Welt. Entworfen hat das Ganze der einheimische Künstler Piet Brouwer.

De IJsloper

 

Een raadselachtig fenomeen:
tien mannen, die welhaast verloren
in dichte nevels om zich heen,
hun hakken in de schotsen boren.

Ze zijn nu gans en al alleen:
er is geen mistsein meer te horen,
en ’t licht dat van de vuren scheen
ging in de grauwe nacht verloren.

Ze stonden met z’n allen klaar
voor wat een bloedreis werd geheten,
en hebben huis en haard vergeten
om in een tocht zo bang en zwaar,
en menigmaal in doodsgevaar,
zich met ‘hun’ element te meten.

T. de Vries

Auf einer Plakette am Kunstwerk steht das vom Tromp de Vries geschriebene Gedicht dazu. Okay, mit der Übersetzung geht die Lyrik zwar verloren, dennoch bleibt wie ich finde ein starker Eindruck:

Ein rätselhaftes Phänomen: Zehn Männer, fast verloren im dichten Nebel um sie herum, graben ihre Fersen in die Schollen. Sie sind jetzt ganz allein: Kein Nebelhorn ist mehr zu hören, und das Licht, das von den Feuern schien, verlor sich in der grauen Nacht. Sie waren alle bereit für das, was man eine Blutreise nannte, und haben Herd und Heim vergessen, um sich unter Todesgefahr mit „ihrem“ Element auf einer Reise zu messen, die so beängstigend und beschwerlich ist.

Vater und Hebamme


Ungefähr hier liegt er im Wasser – der Ommelebommele-Stein

Eine weitere Skulptur steht an der Strandpromenade in der Nähe des Leuchtturms. Dazu müssen wir erst mal ins Wasser gehen. Also, müssten wir, um uns an die Geschichte heranzutasten. Etwa 30 Meter vom Ufer entfernt knapp unter der Wasseroberfläche liegt nämlich der Ommelebommele-Stein   , ein Brocken, den die letzte Eiszeit hier liegengelassen hat.


Werdender Vater und Hebamme auf dem Weg

Dieser große Stein ist deshalb so wichtig für Urk, weil … hier kommen die Kinder her. Ein werdender Vater musste früher zunächst nach Schokland rudern (heute kann er laufen), um dort eine Hebamme und einen Schlüssel abzuholen. Damit rudert er dann zum Ommelebommele-Stein, wo unter Wasser die Tür zu suchen und aufzuschließen ist. Gegen ein kleines Entgeld (Sohn: 2 Gulden, Tochter: 1 Gulden) wird ihm dann das Kind ausgehändigt. Das klingt ein wenig aufwändiger als einfach nur auf den Storch zu warten, funktioniert aber offenbar gut, denn Urk hat mit 3,2 Kindern pro Frau die höchste Geburtenrate aller niederländischen Gemeinden.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Religion und damit verbundene Traditionen eine große Rolle spielen auf dieser ehemaligen Insel. 97,7 % der Urker sind Mitglied einer christlichen Kirche (fast ausschließlich reformierte Kirchen). Durchschnittlich 93,8 % der Erwachsenen besuchen jeden Sonntag den Gottesdienst (Stand 2010/2013). Aufgrund ihrer Frömmigkeit spenden viele Urker viel Geld für wohltätige Zwecke. Auf Urk wird pro Kopf mehr für Wohltätigkeit ausgegeben als in jedem anderen Ort in Westeuropa.

Und da sehen wir auch letztendlich die Ursache für die Bekleidung der weiblichen Gemeindemitglieder. Aber auch die Jungs bzw. Männer haben eine Tradition wieder aufleben lassen: der goldene Ohrring, der früher als Bestattungsversicherung diente, und mit dem – wenn ein Skipper bei einem Unglück ums Leben kam – seine Beerdigung bezahlt werden konnte.

Urk ist auf jeden Fall eine Reise wert – ein Kleinod unter den Hafenstädten im Norden Europas. Deswegen fahren dort im Sommer auch viele Menschen hin. Mein Tipp: Versucht es mal außerhalb der Hochsaison. Dann kann der idyllische Fischerort seinen Charme voll ausspielen.