Mit ihrer Stadtmauer, dem Rathaus, elf mittelalterlichen Kirchen und vielen Bürgerhäusern aus Stein und Fachwerk vermittelt die zwischen Harz und Thüringer Wald gelegene ehemalige Reichsstadt ein lebendiges Bild ihrer großen Vergangenheit. In ihren Mauern wirkten der Reformator Thomas Münzer und Johann Sebastian Bach. Wer sich aufmerksam umschaut, der stößt auf die Geschichte einer weiteren Berühmtheit, die man vielleicht mit New York verbindet, aber nicht mit dieser Kleinstadt an der Unstrut.

"Some people's beauty lies not in the features, but in the varied expression that the countenance will assume under the various emotions. She is...a most entertaining talker, which is a mighty good thing you know, I myself being so stupid." Das schrieb Washington Roebling 1865 über seine Frau Emily in einem Brief an seine Schwester. Wir sind während eines Spaziergangs am Ende unseres Aufenthalts auf die Spur dieser außergewöhnlichen Frau gestossen.



Thomas Münzer und (Mini-)Äquadukt vor dem Frauentor

Aber es gibt auch noch Bach und Münzer, die beide in der Erinnerungskultur des Ortes einen hohen Stellenwert haben. Der Komponist weilte allerdings nur etwas über ein Jahr in der Stadt und zog dann, nicht zuletzt wegen der besseren Bezahlung, nach Weimar. Noch weniger Zeit verbrachte Müntzer in Mühlhauen, wo er von der Kanzel der Marienkirche aus gegen die Vorstellung wetterte, dass die Bauern den Fürsten und Grundherren bedingungslos zu gehorchen haben. Er sprach den Menschen das Recht zu, sich gegen Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Das war damals unerhört – neuzeitlich und dem Mittelalter entrückt. Der radikale Priester beteiligte sich sogar aktiv am Aufstand, was ihm allerdings zum Verhängnis wurde. Nach der Schlacht von Frankenhausen vor fast genau 500 Jahren, die mit einer vernichtenden Niederlage des von ihm angeführten Bauernhaufens endete, wurde er in Mühlhausen hingerichtet.

Das (Mini-)Äquadukt am Rabenturm ist ein Überbleibsel der fünf Kilometer langen Wasserleitung, die um 1290 in die Stadt geführt wurde und mit insgesamt nur 1,80 m Gefälle schon eine technische Meisterleistung darstellt.



So viel ansehnliches Fachwerk haben wir bisher noch in keiner Stadt gesehen

Die Altstadt von Mühlhausen ist das zweitgrößte Flächendenkmal in Thüringen (erkennbar an den roten Straßenschildern). Neben vielen Kirchen und musealen Einrichtungen entdecken wir dekorativ sanierte Fachwerk- und Bürgerhäuser, besondere Baudenkmäler und einstige Mühlen. Mein Versuch, das Bauerkriegsmuseum zu besuchen, scheitert allerdings an den Handwerkern, die die Ausstellung seit November umbauen – zur Vorbereitung auf das Jubiläum nächstes Jahr. Auch für einen Spaziergang auf der Wehrmauer am Frauentor sind wir zu früh: erst ab Ostern!

Auf unserem letzten Spaziergang entdecken wir eine übergroße Wandmalerei. Der Mögeliner Fassadenkünstler Marco Brzozowski (360art ) hat hier ein besonders beeindruckendes Zeugnis seiner Fähigkeiten vorgelegt. Auf einem 500 m² großen Hausgiebel sind 21 Episoden der Stadtgeschichte dargestellt. Das Bild fasziniert durch eine ausgeprägte Plastizität, weil es der Mögeliner in der von ihm bekannten Art als dreidimensionales Werk ausgeführt hat. Licht und Schatten lassen Türme, Gänge, Balkone und Bögen hervor- oder zurücktreten – kaum zu glauben, dass eine glatte Wand dahintersteckt.


Hier hat sich Marco richtig ins Zeug gelegt

Zu sehen sind unter anderem Thomas Müntzer und Johann Sebastian Bach sowie Könige und Fürsten, die bei der Stadtentwicklung eine Rolle spielten. Von der urkundlichen Ersterwähnung 967 erstrecken sich die Bilder über den Dreißigjährigen Krieg, die Pestepidemie 1682 und die Befreiung durch amerikanische Truppen 1945 bis zum Mauerfall 1989. Unten rechts winkt jemand aus einem Trabant und eine Frau hält ein Transparent mit dem Spruch „Wir sind das Volk!“. Einige der Motive können wir identifizieren, aber wer ist der ältere Herr links unten neben den preußischen Soldaten mit der Brücke im Hintergrund? Ab ins Internet.

Mit den Suchwörtern berühmt und Mühlhausen komme ich schnell ans Ziel: Johann August Röbling ist vor allem für den Entwurf der Brooklyn Bridge in New York bekannt. Gemeinsam mit seinem Bruder und weiteren 40 Mühlhäuserinnen und Mühlhäusern wanderte er 1831 nach Nordamerika aus und gründete in Pennsylvania die Siedlung Germania, später umbenannt in Saxonburg. Die Vollendung seines wohl bekanntesten Bauwerkes erlebte er selbst aber nicht mehr, verstarb Röbling doch nach einem Unfall während der Vermessungsarbeiten im Jahr 1869. Das ehrgeizige Projekt wurde jedoch von seinem Sohn Washington und dessen Ehefrau Emily  weiter vorangetrieben.

Washington Roebling zog sich allerdings wenige Jahre später die Taucherkrankheit  zu (er hielt sich oft in den Caissons  für den Pfeiler im Fluss auf) und war teilweise gelähmt und nur eingeschränkt arbeitsfähig. Die Brücke konnte trotzdem „durch die wirkungsvolle, zähe, intelligente Unterstützung seiner Ehefrau“ fertiggestellt werden. Sie hatte sich die dazu notwendigen mathematischen und Ingenieurkenntnisse im Selbststudium beigebracht und gleichzeitig als Bauleiterin seine mündlich und schriftlich erteilten Weisungen äußerst sorgfältig und umsichtig umgesetzt. Die Brooklyn Bridge, die den East River überspannt und die Stadtteile Manhattan und Brooklyn miteinander verbindet, war zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung die längste Hängebrücke der Welt. Bei der Eröffnung 1883 ritt Emily mit dem US-Präsidenten über die Brücke.

Uns bringen nun 160 Pferde nach Leipzig, wo wir einen Geburtstag zu feiern haben. Ich freue mich schon auf lehrreiche Unterhaltungen mit der nächsten Generation, auf meine morgendlichen Spaziergänge durchs Stadtzentrum, auf die leckeren Croissants im stattlichen Bahnhof und die dort jeden Tag geöffnete Buchhandlung mit dem knarrenden Parkett im ehemaligen preußischen Wartesaal.